Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution

Denn die Revolution bedeutet nichts, wenn sie nicht ein Kampf für Menschlichkeit ist, gegen all das, was unmenschlich und des Menschen unwürdig ist. Deswegen haben wir immer erklärt, daß, je mehr es an wirklicher Revolution gibt, um so weniger Gewalt gibt es:


Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution


(Bart de Ligt)


GEGEN DIE LOGIK DER (REVOLUTIONÄREN) GEWALT


(...)


"Wir sprechen allen revolutionären Gewalthandlungen jede sittliche, sozialistische Würde entschieden ab. Die Gewalt, immer Attentat gegen den Menschen, steht im schärfsten Widerspruch zum Geist des sozialistischen Ideals. (...) Es liegt für die Gewalt auch darin keine Rechtfertigung, daß sie im Namen der Interessen und Leiden der Mehrheit der arbeitenden und bedrückten Menschheit angewandt wird,"(1) diese äußerung des russischen Sozialrevolutionärs Isaak Steinberg, zeitweilig Volkskommissar für Justiz nach der russischen Revolution, führt zu einem zentralen, mit der Frage der Anwendung "revolutionärer" Gewalt verbundenen Problem: jede Gewaltanwendung steht im Widerspruch zur angestrebten Utopie der sozialistischen (2) bzw. gewaltfreien und herrschaftslosen Gesellschaft.


Jede Bewertung politischer Aktionen und der angewendeten Mittel muß ihre Maßstäbe aus dem angestrebten Ziel nicht nur der einzelnen konkreten Aktion, sondern der politischen Utopie entwickeln - so sie denn vorhanden ist. Alles andere führt zu einer Beliebigkeit der Mittel, zu der Leerformel "Der Zweck heiligt die Mittel", mit der in der Geschichte von allen Seiten noch jede Grausamkeit gerechtfertigt wurde.


"Und immer wurde von den Hütern der Zwecke, von den zeitweiligen Beherrschern der menschlichen Geschichte, oft aufrichtig, gedacht und vor sich selbst oder vor anderen wiederholt: 'Der Zweck heiligt die Mittel!' (...)


Wenn aber der 'technische' Standpunkt sich auf diese Formel stützt, so muß der 'moralische' Standpunkt eine andere Formel besitzen. Ich glaube, daß sie ohne Schwierigkeiten erfaßt und festgelegt werden kann. Sie würde lauten: Nicht der Zweck heiligt die Mittel, sondern der Zweck wird durch die Mittel geheiligt. Nicht alles ist erlaubt - besagt diese Formel. Es genügt nicht, das Ziel zu bestimmen, zu vergeistigen und zu schmücken; es wird ein leerer Schall bleiben, wenn der zu ihm führende Weg mit ihm nicht innig und tief verwandt ist. Das Ziel ist ein meisterhafter Plan, den der schöpferische Menschengeist entwirft, eine ferne Silhouette an dem geistigen Horizont, ein breites, viel umfassendes Gefäß, das seiner schöpferischen Erfüllung harrt. Die 'Mittel' sind die ausgewählte, feinempfindliche, dem Zweck verwandte Hand, die nach diesem Plan das Gebäude errichtet, die wahre Silhouette zum Leben weckt, das düstere Gefäß bis zum Rande füllt. Nur durch ausgewählte und verwandte Mittel kann der ideelle Umriß des Ziels mit dem Fleisch und Blut der ideellen Tat und des verkörperten Ideals bekleidet werden. 'Der Zweck heiligt die Mittel' bedeutet: Durch Skrupellosigkeit in der Auswahl der Wege ist die Verwirklichung des äußeren Rahmens der Aufgabe möglich. 'Der Zweck wird durch die Mittel geheiligt' bedeutet: Nur durch die scharfe Auswahl der Wege kann der innere Sinn der Aufgabe verwirklicht werden."(3)


 


Gewaltfreiheit:

Eine kraftvolle Alternative zur "revolutionären" Gewalt


Die Alternative zur Gewalt ist jedoch nicht das Akzeptieren des Unrechts, der staatlichen Gewalt und der in Strukturen gegossenen Gewalt (nicht nur Waffen können töten, auch Strukturen, die zu Hunger, Ausbeutung, etc. führen), sondern die gewaltfreie Veränderung (oder besser: Revolutionierung) der Gesellschaft. Die Diskussion darum ist alt (deswegen zitiere ich auch überwiegend ältere Texte), und wurde vor allem in der anarchistischen Bewegung der 20er und 30er Jahre ausgiebig geführt (4).


Gewaltfreiheit ist mehr als Lichterketten, Händchenhalten und die Herrschenden darum zu bitten, doch ihr schändliches Tun zu überdenken. Dieses Zerrbild der Gewaltfreien Aktion wird zwar von vielen ausgiebig gepflegt (und daran sind bestimmte Strömungen der Gewaltfreiheit nicht ganz unschuldig), hat jedoch herzlich wenig mit einem revolutionären Verständnis von Gewaltfreiheit zu tun.


Ziel gewaltfreier Bewegungen ist es in erster Linie nicht, die Herrschenden oder GegnerInnen zu überzeugen, sondern durch den Aufbau gewaltfreier Gegenmacht (5) von unten an der Durchführung seiner/ihrer Pläne zu hindern. Zahlreiche Beispiele ließen sich hierfür anführen, so z.B. der gewaltfreie Widerstand gegen den Kapp-Putsch in der Weimarer Republik (6), gewaltfreie Widerstandsaktionen in zahlreichen Ländern im von Nazideutschland besetzten Europa oder auch der indische Unabhängigkeitskampf unter Gandhi.


Wichtiges Kennzeichen gewaltfreier Aktionen ist jedoch, daß sie den/die GegnerIn als Person achtet, aber in ihrer Funktion bekämpft. Alle Aktionen, bei denen diese Unterscheidung nicht ohne großartigen Erklärungsaufwand deutlich wird, sind von daher nicht im Sinne gewaltfreier Politik, da sie als persönlicher Angriff auf eine Person mißverstanden werden können. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, daß es der/dem GegnerIn möglich sein muß, unter Wahrung des eigenen Gesichts aus der Auseinandersetzung herauszukommen. Dieser Punkt spielt sogar auch bei militärischen Planungen eine Rolle, da eine ausweglose Situation in der Regel zu mehr Gegenwehr führt.


 


Geschichte wird von Minderheiten gemacht


Gesellschaftliche Umwälzungen bis hin zu Revolutionen werden i.d.R. von Minderheiten gemacht. Das gilt für gewaltfreie Bewegungen nicht weniger als für gewaltsame. Wichtig für den politischen Erfolg ist das Umfeld, die sogenannte "öffentliche Meinung" (nicht zu verwechseln mit der "veröffentlichten" Meinung). Und das gilt nicht nur für formaldemokratische Gesellschaften, die in gewissem Maße politische Freiheiten gewähren, sondern auch für Extremsituationen wie z.B. die Besetzung vieler europäischer Länder durch Nazideutschland.


In einer Untersuchung zum zivilen Widerstand unter den Bedingungen dieser Besetzung - und dieser Widerstand war zahlreicher und effektiver, als allgemein bekannt ist - wurden folgende Merkmale erfolgreichen gewaltfreien Widerstandes herausgearbeitet:


  • die Aktionen selbst werden i.d.R. nur von kleinen Minderheiten getragen, die allerdings durchaus mehrere 1000 Menschen umfassen können;
  • die AktivistInnen benötigen ein Umfeld von UnterstützerInnen, die sich selbst nicht kontinuierlich an Aktionen beteiligen, aber die Ideen weiterverbreiten und kleine Unterstützungshandlungen vollbringen;
  • als Schutz vor Repression ist eine darüber hinausgehende wohlwollende öffentliche Meinung erforderlich. Diese öffentliche Meinung wirkt auch dann, wenn sie nicht veröffentlicht wird, da sie als Stimmung auch den Herrschenden nicht verborgen bleibt.(7)

Diese unter Extrembedingungen gültigen Ergebnisse gelten letztendlich auch in formaldemokratischen Ländern und lassen sich noch nicht einmal nur auf gewaltfreie Bewegungen beschränken - sie können problemlos auf Konzepte bewaffneten Kampfes übertragen werden.


 


Herrschaft braucht Gehorsam


Soziale Bewegungen, seien sie nun gewaltfrei oder nicht, entstehen jedoch nicht von allein und entzünden sich auch nicht von allein an unhaltbaren, ungerechten und menschenunwürdigen Zuständen. Hier muß ein wichtiger Faktor hinzukommen: der Zustand muß als illegitim erkannt werden, der Herrschaft muß die Legitimität entzogen werden.


Hieran muß sich eine politische Strategie orientieren, die auf Erfolg aus ist, und nicht nur der persönlichen Befriedigung oder Frustkompensation dienen soll. Herrschaft ist letztendlich deshalb stabil, weil sie auf die stillschweigende Zustimmung der Beherrschten bauen kann (8).


Der Entzug dieser Zustimmung ist eine der schärfsten Waffen der gewaltfreien Aktion. Die Verweigerung, der Streik, die "Nicht-Zusammenarbeit" sind Aktionsformen, mit denen den Herrschenden der Gehorsam aufgekündigt wird. Ohne diesen Gehorsam bricht jede Herrschaft letztendlich zusammen (was nicht heißen soll, daß sie sich nicht gegen diesen Zusammenbruch mit Gewalt wehren wird). Diese Erkenntnis ist alt und wurde bereits im 16. Jahrhundert in einem Essay von Etienne de la Boetie über die "Freiwillige Knechtschaft" erörtert. Auf diese klassische Schrift beziehen sich eine ganze Reihe von anarchistischen oder gewaltfreien TheoretikerInnen: von Henry David Thoreau ("über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat") über Gustav Landauer ("Die Revolution") bis hin zu Gandhi, der die Strategie der Nichtzusammenarbeit in Indien massiv anwandte.


Gewaltfreie Aktion erschöpft sich jedoch nicht in der Verneinung, im Negativen. Ein wichtiges Element der gewaltfreien Revolution ist der konstruktive Charackter der Aktionen, die Schaffung von nicht-hierarchischen Organisationsformen, von alternativen ökonomischen Strukturen im Hier und Jetzt. Dieses "sozialistische Beginnen" (Gustav Landauer) macht eine erfolgreiche soziale Revolution erst möglich. Und darum geht es letztendlich: nicht um "ein bißchen mehr Asylrecht", sondern um die gewaltfreie und herrschaftslose Gesellschaft!


 


Konsequenzen


"Wir sind weit davon entfernt, aus der Gewaltfreiheit wieder ein Dogma zu machen" (Clara Wichmann), doch kann es auch nicht darum gehen, Differenzen in der linken und revolutionären Bewegung zuzukleistern und durch Aussparung der Gewaltdiskussion letztendlich einem "Alles ist möglich" das Wort zu reden. Ich will mir hier nicht den Kopf derjenigen zerbrechen, die Gewalt als Mittel der Politik akzeptieren, sondern mich auf den gewaltfreien Standpunkt beschränken. Dieser wurde von den War Resisters' International bereits 1968 in einer Erklärung zu Befreiungsbewegungen deutlich formuliert, und ich schließe mich dem vorbehaltlos an:


"Unser unerschütterliches Bekenntnis zu Gewaltlosigkeit heißt jedoch nicht, daß wir Feinde der revolutionären Bewegungen unserer Zeit sind, obwohl wir in gewissen Grundsatzfragen anderer Meinung sind als einige von ihnen (...)


Wir grüßen all jene, die ungeachtet der gegenwärtigen Trends und Zwänge zur Gewalt in ihren Kämpfen gewaltlose Aktionen einsetzen. Wir grüßen gleichfalls unsere Brüder und Schwestern in den Befreiungsbewegungen. Wir werden mit ihnen zusammenarbeiten, wo es möglich ist, jedoch ohne unsere überzeugung aufzugeben, daß die Fundamente der Zukunft in der Gegenwart gelegt werden müssen, daß eine Gesellschaft ohne Gewalt mit den Revolutionären beginnen muß, die auf die Anwendung von Gewalt verzichten."(9)


 


Andreas Speck

Graswurzelgruppe Oldenburg


Es handelt sich um einen persönlichen Beitrag eines Mitglieds der Graswurzelgruppe Oldenburg, nicht jedoch um eine Stellungnahme der Gruppe.


 


(1) Isaak Steinberg: Gewalt und Terror in der Revolution. Berlin, 1931


(2) "sozialistisch" ist hier nicht mit dem Staatssozialismus des ehemaligen Ostblocks zu verwechseln, sondern steht für anarchistisch oder für einen herrschaftslosen und damit antistaatlichen Sozialismus.


(3) Isaak Steinberg: Gewalt und Terror in der Revolution, a.a.O.


(4) vgl. hierzu: Sozialgeschichte des Antimilitarismus. graswurzelrevolution, Sonderheft


(5) "Macht" ist hier sehr deutlich von "Herrschaft" zu unterscheiden, denn es geht nicht um die Errichtung einer neuen Herrschaftsstruktur. "Macht" ist hier eher im Gegensatz zu "Ohnmacht" zu verstehen, als die Fähigkeit, etwas zu tun und auf die gesellschaftliche Entwicklung Einfluß zu nehmen.


(6) vgl. hierzu: Soziale Verteidigung. graswurzelrevolution, Sonderheft


(7) Jacques Semelin: Unarmed Against Hitler. Civilian Resistance in Europe 1939 - 1943. Westport/USA 1993


(8) das ist auch das große Problem der anarchistischen Bewegung in der BRD. vgl. dazu ausführlich: Michael Wilk: Staatlichkeit als Okkupation. Schwarzer Faden Nr ..., 1993 und 1994


(9) War Resisters' International: Befreiungsbewegung und die WRI. Erklärung des WRI-Rates in Wien 1968


aus: Oldenburger Stachel 1/95